Hessen Vom Frankfurter Arbeiterstrich bis zu autoritären Machtzentren: So beeindruckend ist junge Kunst aus Rhein-Main
Das Konzept ist einzigartig: Der Kunstverein Frankfurt hat wieder mehrere Monate mit jungen Künstlern an der Ausstellung "And This is Us” gearbeitet. Das Ergebnis ist sehenswert, denn die Werke sind hochwertig, vielseitig und überraschend.
Das dürften die wenigsten in einer Ausstellung erwarten: Wer "And This is Us" im Frankfurter Kunstverein besucht, stößt im ersten Stock auf eine rau verputzte Häuserecke samt Straße davor: graue Pflastersteine mit eingebackenen Kronkorken und Kleingeldmünzen, ein Paar Sicherheitsschuhe, Werkzeuge und ein leerer weißer Plastikstuhl.
Auf genauso einem Stuhl sitzen auch die Arbeiter an der Frankfurter Howaldtstraße, Ecke Sonnemannstraße, vor der Europäischen Zentralbank – das Beweisfoto von Google Maps hängt gerahmt an der Wand.
Der Frankfurter Arbeiterstrich ist jetzt Kunst
An diesem Schwarzmarkt, auch "Arbeiterstrich" genannt, hat der Künstler Gregor Lau, auch die Arbeiter rekrutiert, um die Pflastersteine für seine Installation herzustellen.
Klug und mit Witz rückt Lau, der noch an der Städelschule studiert, etwas in den Mittelpunkt eines Ausstellungsraumes, was sonst in der Gesellschaft verdeckt vor sich geht, und adelt es als Kunst.
Künstler wenden sich dem Analogen zu
Lau ist gelernter Stuckateur. Auch andere teilnehmende Künstlerinnen und Künstler sind gelernte Handwerker, etwa Modellbauer oder Holzbildhauermeister. Deren Positionen sind sehr unterschiedlich.
Doch neben ihrer hohen Qualität und handwerklichen Präzision verbinde sie eines, unterstreicht die Direktorin des Frankfurter Kunstvereins, Franziska Nori: eine deutliche Hinwendung zum Analogen. Das habe sie auch in den eingereichten 110 Portfolios festgestellt.

Gregor Lau: Von der Straße für die Straße (Sonnemann Ecke Howaldtstraße), Ausstellungsansicht Frankfurter Kunstverein 2025
Es gehe etwa kaum um Künstliche Intelligenz – nur in einer einzigen von zwölf gezeigten Arbeiten spielt KI eine Rolle. Stattdessen interessieren sich die jungen Künstlerinnen und Künstler für die eher "klassischen" Medien der Kunst: für Malerei, Skulptur, Installation, Performance.
Für Nori zeigt sich in all dem Analogen "das Bedürfnis, immer wieder die Realität zu überprüfen." Womöglich ist es auch eine Gegenbewegung zur Übermacht und Allgegenwart hochästhetisierter Bildwelten, mit denen wir andauernd durch die Sozialen Medien umgeben werden.
Generation Schwebezustand
Ein weiterer Eindruck aus der Sichtung der Portfolios sei, dass es das Lebensgefühl der jetzigen Generation geworden sei, "in der Zeit irgendwie stillzustehen und den Atem anzuhalten, weil alles zur Disposition steht," stellt Nori fest.
Für dieses Lebensgefühl des Stillstands, des In-der-Schwebe-Seins, steht sinnbildlich die performative Videoarbeit der jungen Künstlerin Nelly Habelt, die an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach studiert.

Künstlerin Nelly Habelt
Besuchende laufen am Eingang des Frankfurter Kunstvereins direkt auf sie zu: Ein Hochkant-Bildschirm zeigt die Künstlerin und einen Freund dabei, wie sie, grazil und scheinbar schwerelos, mitten in der Stadt schweben.
Tatsächlich haben sie sich – inspiriert vom städtischen Parkour-Lauf – mit viel Körperbeherrschung und ausgefeilten Techniken an Brücken, Ampeln und Geländer in Frankfurt und Offenbach geklemmt. Der Trick sei, so Habelt, kleinste Vorsprünge, wie sie etwa die Offenbacher Laternenmasten bieten, zu nutzen.
Matrix in Love
Habelts Videoarbeit dokumentiert ihre Streifzüge so poetisch wie eindrucksvoll: Die völlig regungslosen Körper schweben – wie in einer futuristischen Kampfszene der Matrix-Filme – als wären sie in der Zeit festgefroren, während die Kamera um sie herum kreist und der Stadtverkehr im Hintergrund weiterläuft.
Dieser Bruch interessiert die Künstlerin: Der öffentliche Raum sei wichtig, dort finde das tägliche Leben statt. Gleichzeitig würden viele dieser Orte nicht angemessen wertgeschätzt, ihnen möchte sie ein bisschen Zärtlichkeit schenken, wie sie sagt.
Junge Künstler werden eng betreut
Die hohe Qualität der Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern, die noch studieren oder gerade erst ihren Abschluss gemacht haben, hängt maßgeblich damit zusammen, dass "And This Is Us" nicht einfach "nur" eine Ausstellung ist. Ihr geht ein knapp halbjährliches Coaching voran: Das Team des Kunstvereins unterstützt die jungen Künstlerinnen und Künstlern bei der Erarbeitung neuer Werke.
Die Ausstellung zeigt die Ergebnisse, allesamt Neuproduktionen – das ist einzigartig, nicht nur in der Region. "Unser Augenmerk liegt auf der Erfahrung institutioneller Zusammenarbeit," sagt Nori. "Alles, von der Projektbesprechung, über die Betreuung der Produktion bis zur Inszenierung in den Räumen."
Ein rares Sprungbrett für den Nachwuchs
Gerade diese Erfahrung schätzt auch die teilnehmende Künstlerin Thuy Tien Nguyen, die in Hanoi und Frankfurt lebt und arbeitet und Absolventin der Städelschule ist. Sie habe viel über die Prozesse des Ausstellens in Institutionen gelernt, sagt sie.

Künstlerin Thuy Tien Nguyen
In ihren chrom-blitzendenden Büromöbel-Spieluhr-Skulpturen nimmt sie, unheimlich und märchenhaft, autoritäre Schaltzentren der Macht auf die Schippe – vom ehemaligen Unabhängigkeitspalast in Hanoi bis zu den Banken-Chefetagen Frankfurts. Die Ausstellung im Frankfurter Kunstverein sieht sie als wichtige Plattform und große Gelegenheit, um Einstieg in den Kunstmarkt zu bekommen.
Diese Einschätzung kann Franziska Nori bestätigen. "Andere Institutionen, Kuratoren und Kuratorinnen rekrutieren aus dieser Ausstellung heraus, und das wissen auch die Künstler und Künstlerinnen."
Die Positionen reichen neben den beschriebenen vom großen aktivistischen Projekt mit Gewächshaus und Kochworkshop des georgisch-ghanaischen Künstlerduos La Caoba, über die sehr erotisch aufgeladenen Skulpturen des assyrischen Künstlers Sargon Khnu, bis zu den bedrückenden Collagen von Hinrichtungsorten in Iran und den dafür bevorzugten Baukränen von der Künstlerin Nazanin Hafez.
Zu sehen ist die Schau noch bis zum 31. August 2025.