Conchita Wurst

Eurovision Song Contest Wie politisch ist der ESC?

Stand: 15.05.2025 12:05 Uhr

Längst ist der ESC mehr als Pop-Balladen und schrille Outfits. Die Auftritte sind auch politische Statements und zeigen einen Spiegel der Gesellschaft. Ein klares Zeichen setzte 2014 die Drag Queen Conchita Wurst.

Von Maximilian Sippenauer, BR

Der Sieg des Schweizer Acts Nemo beim Eurovision Song Contest 2024 war vor allem in einer Hinsicht bezeichnend: Er wirkte selbstverständlich. Dass mit Nemo erstmals eine non-binäre Person den ESC gewinnen konnte, war zwar ein Thema, 2024 aber keine Sensation mehr.

Nemo aus der Schweiz tritt mit dem Titel "The Code" auf der Bühne beim Finale des Eurovision Song Contest (ESC) 2024 in der Malmö Arena auf.

In Malmö 2024 siegte Nemo aus der Schweiz - als erste nicht-binäre Person - mit dem Lied "The Code".

Seit Jahren zählt für das Publikum beides: Die künstlerische Qualität der Songs sowie deren politische Kopfnote. Der Wettbewerb gilt längst als inoffizielles Stimmungsbarometer für die sozialpolitische Atmosphäre in Europa.

Doch wieso wird bei einem Gesangswettbewerb, der selbsterklärt unpolitisch sein will, die Botschaft hinter der Musik fast so zentral wie die Musik selbst? Eine Antwort findet sich in Österreich.

Après-Ski-Schlager versus Drag Queen

In den Nullerjahren stand der ESC vor allem für einen wilden Musik-Mix zwischen kitschigen Pop-Balladen und schrillem Geblödel. Auch in Österreich - bis ins Jahr 2012. Beim damaligen Vorentscheid, live im ORF, bahnte sich eine Zäsur an. Im Finale für die Qualifikationsrunden zum Hauptwettbewerb in Baku standen sich das Hip-Hop-Duo Trackshittaz und die Drag-Künstlerin Conchita Wurst gegenüber.

Während sich die Hip-Hopper mit ihrem Track "Woki mit deim Popo" eher in der halb lustig, halb chauvinistischen Tradition des Après-Ski-Schlagers verorteten, überraschte Conchita Wurst diametral entgegengesetzt als zarte Drag Queen im Abendkleid, mit langem glänzendem Haar und Vollbart.

Wurst faszinierte und polarisierte zugleich. Und verlor am Ende mit 49 zu 51 Prozent die Zuschauerabstimmung gegen die Trackshittaz. Das Hip-Hop-Duo reiste nach Baku, nur um dort bereits im Halbfinale auf dem letzten Platz auszuscheiden - eine Niederlage mit Zäsurcharakter.

Furioses Comeback und Sieg beim ESC

Dass Conchita Wurst mit ihrer Hymne "Rise Like a Phoenix" nur zwei Jahre später beim ESC in Kopenhagen sensationell den Sieg für ihr Heimatland erringen konnte, war der glücklichen Fügung verschiedener Umstände zu verdanken sowie der damaligen ORF-Fernsehdirektorin Kathrin Zechner.

Fest steht: Der Sieg von Conchita Wurst veränderte den Wettbewerb nachhaltig. Hatte der ESC schon zuvor eine große Fangemeinschaft in der queeren Kultur, empowert er seither die Szene. Sogar aus Russland, wo ihr Auftritt von führenden Politikern öffentlich verurteilt wurde, bekam Conchita Wurst damals fünf Punkte.

Für die Künstlerin der Beweis, dass die homophobe Stimmungsmache in Politik und Medien nicht die allgemeine Meinung der Bevölkerung widerspiegelt. Seitdem steht der Wettbewerb zunehmend für Sichtbarkeit und Haltung. Und das endet nicht bei identitätspolitischen Fragen.

Die ukrainische Band Kalush Orchestra feiert auf der ESC-Bühne nach ihrem Sieg.

Im Jahr 2022 gewann die ukrainische Folk-Rap-Gruppe Kalush Orchestra den ESC - auch ein Zeichen der Unterstützung für die Ukraine.

Echoraum und Impulsgeber für Debatten

2021, ein Jahr nach dem Brexit, wird Großbritannien Letzter. Ein Jahre später, kurz nach dem russischen Angriff, gewinnt die Ukraine den Wettbewerb. Und im Jahr 2024 buht ein Teil des schwedischen Gastgeberpublikums die israelische Kandidatin Eden Golan aus, wegen des israelischen Vorgehens im Gazastreifen. Trotzdem wird Golan Fünfte.

Der Eurovision Song Contest, 1956 als unpolitische Veranstaltung für einen Kontinent gegründet, der sich noch wenige Jahre zuvor untereinander im Krieg befand, ist heute mehr als ein Ort bloßer Unterhaltung und europäischer Selbstversicherung: Er ist Echoraum und Impulsgeber für gesamteuropäische Debatten.

In einer früheren Version des Artikels stand fälschlicherweise, dass Großbritannien im Jahr 2020 Vorletzter geworden sei. Tatsächlich wurde der ESC 2020 wegen der Corona-Pandemie abgesagt und Großbritannien wurde 2021 Letzter. Zudem wurde der Eurovision Song Contest 1956 und nicht 1957 gegründet.

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Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 15. Mai 2025 um 08:58 Uhr.